https://doi.org/10.23986/afsci.113911
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat am 16. Mai 2023 ein Gutachten an die EU-Kommission geschickt. Darin empfiehlt sie nebst weiteren Massnahmen die ganzjährige Anbindehaltung zu vermeiden. Mehr Infos unter folgendem Link: EFSA: Bessere Unterbringung von Milchkühen, Enten, Gänsen und Wachteln zur Verbesserung des Tierschutzes erforderlich | EFSA (europa.eu)
Norwegen hat bereits im Vorfeld beschlossen, die Anbindehaltung ab 2034 zu verbieten und besitzt landschaftliche und strukturelle Ähnlichkeiten zur Schweiz. Diese Forschungsarbeit untersucht mögliche Konsequenzen des Verbots.
Einleitung
In der Einleitung wird die Ausgangslage Norwegens beschrieben: 60% der Milchbetriebe in Norwegen arbeiten mit Anbindehaltung und produzieren einen Drittel der Milch. Das sind vor allem kleine und mittlere Betriebe mit durchschnittlich 18 Kühen. Ab 2034 ist die Anbindehaltung verboten, ausserdem muss ab 2024 ein Abkalbebox pro 25 Kühe zur Verfügung stehen. Die Kühe müssen seit diesem Jahr ausserdem im Sommer im Minimum 16 Wochen Weidebetrieb haben, wenn die Konditionen es erlauben (sonst 12 Wochen), und während des restlichen Jahres die Möglichkeit zur freien Bewegung. Das neue Gesetz verlangt von vielen Betrieben grössere Investitionen, die bei den momentanen staatlichen Beiträgen für Betriebe mit wenig Land nicht profitabel sind. In vielen norwegischen Regionen sind die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen stark verstreut und das Überleben für Landwirtschaftsbetriebe in abgelegenen Regionen ist nur mit staatlicher Unterstützung möglich. Im Gegenzug dazu erhält die Öffentlichkeit von den Bauern Leistungen, welche vom Markt nicht direkt bezahlt werden, wie die Landschaftspflege. Betriebe in landwirtschaftlich einfacher nutzbaren Gebieten machen einen grossen Anteil der Produktion und der Landnutzung aus. Viele dieser Höfe haben auf automatische Melksysteme umgestellt und 56% der in Norwegen produzierten Milch kommt heute bereits aus Roboterbetrieben, Tendenz steigend. Der Konsens ist, dass automatische Melksysteme ab 30 Kühen profitabel sind und nur wenige kleine und mittlere Betriebe haben bisher in Roboter oder Laufställe investiert. Trotzdem werden die kleinen Betriebe als wichtig für die ländliche Gesellschaft angesehen – aus ökonomischen, sozialen und kulturellen Gründen. Ausserdem wird ihr Beitrag zur Versorgungssicherheit, der Biodiversität und dem kulturellen Erbe hervorgehoben. Die Studie fokussiert sich auf die Region Vestland, in der 43% der Bauern angegeben haben, aufgrund des Verbots den Betrieb aufzugeben. Vestland hat Küsten-und Binnenflächen und ist charakterisiert durch hohe Berge, Fjorde und Inseln. Mehr als 95% der Kühe in Norwegen gehören zur Rasse Norwegisch Rot und werden für die Fleisch- und die Milchproduktion verwendet. Es existiert keine Aufteilung in Mutter- und Milchkühe, wie wir sie in der Schweiz kennen.
Das Ziel der Studie war, folgende Fragen zu beantworten: Wie profitabel ist es in Vestland in einen Laufstall zu investieren? Wie ist das Verhältnis der Profitabilität zur Herdengrösse?
Situation in vergleichbaren Ländern
Um die Studie in einen grösseren Kontext zu setzen, haben sich die Verfasser mit der Gesetzgebung in anderen nordischen Ländern und der Schweiz auseinandergesetzt. In Dänemark sind Laufställe seit 2022 Pflicht. Allerdings beträgt die durchschnittliche Herdengrösse Dänemarks 227 Kühe und 95% der Kühe wurden bereits in Laufställen gehalten. In Schweden leben 20-30% der Kühe in Anbindeställen; bei den Herden unter 50 Kühen sind es etwa 95%. Eine schwedische Studie ist zum Schluss gekommen, dass bei einem Verbot viele Betriebe aufhören würden und die Versorgungssicherheit darunter leiden würde. Bei einem Neubau ist ein Laufstall Pflicht, weitere Änderungen waren bei Erstellung dieses Papers (noch) nicht beschlossen.
In Finnland leben im Schnitt 41.3 Kühe auf einem Betrieb. Es gibt rapide strukturelle Umwälzungen und von 2014 bis 2019 ist die Anzahl der Betriebe jährlich um 6.9 % gesunken und damit ist auch der Anteil Kühe in Anbindeställen gesunken. Im Jahr 2013 wurden noch 80% der Kühe in Anbindeställen gehalten, 2021 waren es nur noch 31%. Zum Zeitpunkt der Studie wurde gerade ein neues Tierwohlgesetz ausgearbeitet. Im Entwurf ist ein Verbot für den Neubau von Anbindeställen, aber keine Frist für die Benutzung der bereits bestehenden Ställe.
Die durchschnittliche Herdengrösse der Schweiz ist der in Norwegen mit 22 Kühen ähnlich. Die Studie gibt nicht an, wie viele Kühe in der Schweiz in Anbindehaltung leben. Laut einem Kassensturz Bericht vom Februar 2022 sind es 42% (Tierwohl im Stall - 42 Prozent der Milchkühe leben in einem Anbindestall - News - SRF). Die Studie beschreibt die Strategie der Schweiz als eine Zieh-statt Stoss-Strategie. Sie geht auf die Programme BTS und RAUS ein, mit denen die Schweiz finanzielle Anreize bietet, statt mit Verboten zu arbeiten. Eine Schweizer Studie (Odermatt, 2019) hat beschrieben, dass die Teilnahme an beiden Programmen zu einer Kostenreduktion von 10% auf den Betrieben geführt hat und zeigt damit, dass die Umsetzung von Tierwohlprogrammen auch einen wirtschaftlichen Vorteil bringen kann.
Im Folgenden wird auf den norwegischen Kontext im Detail eingegangen. Die Ziele der Agrarpolitik sind Versorgungssicherheit, die Produktion in allen Landesteilen, die Generierung von Mehrwert und eine nachhaltige Landwirtschaft mit weniger Treibhausemissionen. Statistiken über Anzahl Betriebe (sinkend), Anzahl Kühe pro Betrieb (steigend) und Milchleistung (steigend), sowie Herdengrösse in verschiedenen Landesteilen werden gezeigt. Etwa 40% der norwegischen Betriebe arbeiten mit Herdengrössen von weniger als 20 Kühen.
Material und Methoden
In Norwegen gehen Neubauten über eine Institution, welche die staatlichen Gelder vergibt. Über diese Organisation wurden 66 Betriebe rekrutiert, welche in der sensiblen Region Vestland in den letzten Jahren neue Ställe gebaut haben. Der Nettogegenwartswert (net present value NPV) dieser Projekte wurde ausgerechnet und mit einer pauschalen Annahme für eine Optimierung des Anbindestalls ohne Umstellung auf einen Laufstall in Relation gesetzt. Ausserdem wurde die staatliche Unterstützung einmal mitgerechnet und in einer anderen Variante ausgelassen. Zusätzlich wurde der Einfluss von Variabeln wie Herdengrösse, Milchkontingent (Norwegen funktioniert anscheinend noch mit «quotas», was man als Kontingente übersetzen kann), Milchleistung pro Kuh, Investitionskosten pro Kuh und nutzbare Fläche vor und nach dem Umbau beurteilt.
Resultate und Diskussion
Die Studie zeigt, dass es unabhängig von der Herdengrösse profitabler ist, einen Anbindestall zu optimieren, statt einen Laufstall neu zu bauen. Die Investition in einen Laufstall war für Betriebe mit weniger als 30 Kühen nicht lohnend. Die Profitabilität hat mit einem Abschreibungszeitraum von 30 Jahren den grössten Zusammenhang mit der Anzahl nutzbaren Hektaren nach Umbau gezeigt. Um profitabel zu sein, bräuchten die Betriebe durchschnittlich 32 Hektaren nach Umbau. Der momentane Durchschnitt in Vestland ist bei 26.5 Hektaren. Die landschaftlichen Gegebenheiten in Vestland erlauben es aber nicht in jedem Fall, Land in der Nähe zuzukaufen und der Bedarf nach mehr Land, um wirtschaftlich sein zu können, birgt das Risiko für mehr Transportkosten und einen höheren CO2 Ausstoss.
Die Variation zwischen verschiedenen kleinen Betrieben ist aufgrund unterschiedlicher Gegebenheiten sehr gross. Die Vergleichbarkeit von Betrieben, die jetzt schon umgebaut haben mit Betrieben, die es noch müssen, ist eventuell begrenzt. Die Ersparnis an Arbeitsstunden durch einen Laufstall mit Roboter wurde für die Berechnung der Profitabilität nicht berücksichtigt und ausserdem konnte nur ein Jahr vor Umbau miteinbezogen werden
Trotz all dieser Limitationen zeigt die Studie die hohe Belastung der Gesetzesänderung für kleine und mittlere Betriebe in komplexen Landschaftsgebieten. Verschiedene politische Ziele der Agrarpolitik geraten in einen Zielkonflikt mit der neuen Gesetzgebung. Die Verlagerung der Milchproduktion in die Gebiete mit den günstigsten Bedingungen macht die Landwirtschaft aus Sicht der Autoren anfälliger für Klimaveränderungen wie Dürren. Da das Gesetz bereits steht, sehen die Autoren den einzigen Ausweg darin, die staatlichen Unterstützungen zu erhöhen. Dies, obwohl die Gefahr besteht, dass das Geld verloren geht, wenn Anbieter von Material für Laufställe ihre Preise der Nachfrage entsprechend erhöhen. Allerdings ist 2034 noch relativ weit weg und bis dahin kann es noch zu Änderungen kommen, wie neuen Lösungen für den Stallbau, Änderung der Milchkontingente oder des Konsumverhaltens.